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Die Bodenplatte
Bei Automobilen mit Automatikgetrieben gibt es nur zwei Pedale: Gas und Bremse. In Zeiten staatlichen Raubrittertums an der Zapfsäule - das in den letzten zwanzig Jahren ungeahnte Höhen erklommen hat - empfiehlt sich ein vorsichtiger Umgang mit dem Gaspedal. Früher war das anders, da gab es den "Bleifuß", also einen besonders schweren Fuß, der auf dem Gaspedal gelastet hat. Zu Bundeswehrzeiten haben wir von Backsteinen gesprochen, die wir auf das Gaspedal legen, um zusätzlichen Druck darauf auszuüben. Die höchste Form wurde als "die Bodenplatte durchtreten" bezeichnet.
Bis zum äußersten Anschlag, bis zur maximalen Geschwindigkeit sollte das Gaspedal durchgetreten sein, was bedeutet, daß der Motor so viel Kraftstoff zugeführt bekommt, wie er überhaupt verkraften kann. Wobei amerikanische Autos besonders viel Kraftstoff verbraten konnten, ohne im Gegenzug mit entsprechenden Fahrleistungen aufzuwarten. Man könnte es so ausdrücken: Wo europäische Autos das Benzin im Ottomotor umsetzen, blasen die Amerikaner das Zeug zum Auspuff hinaus, um einen entsprechenden Rückstoß zu erzielen.
Die Steuerungen großer Volkswirtschaften folgt laut Lehrbuch den gleichen Prinzipien wie die Geschwindigkeitskontrolle eines Automatikfahrzeugs: mit Gas und Bremse. Das Gaspedal treten bedeutet, die Leitzinsen zu senken, das Bremspedal erhöht sie wieder. Im langfristigen Mittel lagen die Leitzinsen der EZB bei 2,50%, zu D-Mark-Zeiten bei etwa 4,00%.
Zinsen sind der Preis des Geldes, der Zinssatz regelt folglich, wie viel Geld in die Wirtschaft fließt. Steigen wir zunächst einmal voll in die Eisen und jagen die Zinsen nach oben. Das heißt, Geld läßt sich am einfachsten mit Geld verdienen. Ich trage mein Geld zur Bank und bekomme richtig fette Zinsen. Neun Prozent auf Tagesgeld, risikolos und von einem Augenblick zum anderen verfügbar, das ist für Geldbesitzer sehr angenehm. Für die andere Seite, für jene, die Geld brauchen, sind das schlechte Zeiten.
Wenn ich ein Haus baue, muß ich auf die Hypothekenzinsen achten. Wenn ich ein vergleichbares Objekt für sechs Prozent des Kaufpreises pro Jahr mieten kann, werde ich es nicht für zwölf Prozent Zinsen kaufen. Also baue ich nicht, die Bauarbeiter bekommen von mir kein Geld. Ähnliche Überlegungen stellt ein Unternehmer an, der sein Geschäft ausbauen möchte. Wenn es zu teuer wird, unterläßt er es. Die Beschäftigung geht insgesamt eher zurück - es wird gebremst.
Jetzt geben wir Gas und die Zinsen sinken. Bei acht Prozent treten die Vorteile des Eigentums zu Tage. Ich zahle zwar immer noch mehr als ein Mieter, aber ich bin der Herr im Haus, ich bekomme, was ich will, ich kann Haustiere halten und Satelliten-Antennen aufstellen. Und bei sechs Prozent wird es noch interessanter zu kaufen. Auf das Tagesgeldkonto bekomme ich ebenfalls immer weniger Zinsen.
Jetzt springt die Konjunktur an, die Bauarbeiter bekommen Arbeit und verdienen Geld, die Unternehmer investieren, bauen neue Fabriken und neue Arbeitsplätze. Wer eingestellt wird, wird bezahlt und hat mehr Geld zum Einkaufen. Geld wird jetzt mit Investitionen verdient, in der Industrie. Wir werden schneller und schneller.
Damit kommen wir an die Grenze des Automodells. Für einen Führerschein brauchen Sie schließlich nur ein paar Wochen, für ein Studium der Volkswirtschaftslehre fünf Jahre (Diplom / Master). Gas geben und immer schneller werden ist ja ganz lustig, aber spätestens jenseits der 200 km/h könnte es ein wenig unsicher werden. Vollgas in der Volkswirtschaft bedeutet, daß immer mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf fließt.
Was in der Theorie in schönen Kurven nach oben strebt, stößt in der Realität schließlich an Grenzen. Nach der Anschaffung von drei Kühlschränken, zwei Waschmaschinen und fünf Fernsehern ist eine Junggesellenwohnung nun mal komplett ausgestattet, der Bedarf nach solchen Gütern gedeckt. Nachdem in der Hochkonjunktur und dank des Arbeitskräftemangels die Gehälter gestiegen sind, können die Preise nachziehen. Das Spiel nennt sich Lohn-Preis-Spirale oder eben Inflation. Das im Übermaß vorhandene Geld verliert seinen Wert.
Um noch einmal mit dem Auto zu fahren: Wird Gas gegeben, fließt das Geld schneller in die Wirtschaft, als es darin verbraucht wird, wird gebremst, wird es schneller verbraucht als nachgeliefert. Die Kunst - in der Volkswirtschaft und beim Autofahren - besteht darin, so geschickt mit Gas und Bremse zu hantieren, daß Auto und Volkswirtschaft möglichst gleichmäßig dahingleiten.
Tja, und damit habe ich Ihnen ein gewichtiges Wort untergejubelt: Kunst. Kunst kommt zwar von Können, doch jenseits des Könnens ist eine Inspiration nötig, um künstlerisch tätig zu sein. Allerdings, wem Können, Talent und Inspiration fehlen, dem kann, wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, Propaganda helfen, den Ruf eines Künstlers zu erlangen. Dazu gehört noch das richtige Parteibuch.
Ein gutes Beispiel dafür ist die FDP, die liebend gerne Wirtschaftsminister stellt. Nach einem Sprichwort gibt Gott, demjenigen, dem er ein Amt beschert, auch den Verstand, dieses Amt auszufüllen. FDP-Minister erhalten ihre Ämter jedoch nicht vom lieben Gott, sondern über Koalitionsverhandlungen. Diese verfügen leider nicht über solche Vergabemöglichkeiten. Das trifft leider auch bei den anderen Parteien zu, es ist kein Monopol der FDP.
Wenn wir bei einem Auto mehr Gas geben müssen, um die Geschwindigkeit zu halten, gibt es dafür drei mögliche Ursachen: widriges Gelände, es geht bergauf, widrige Winde, die uns abbremsen, oder gewachsene Lasten, weil beispielsweise der Anhänger schwerer geworden ist.
Vergleichen wir die Leitzinsen aus der D-Mark-Zeit mit denjenigen des Euro-Zeitalters, so stellen wir fest, daß wir von einem Sparkäfer auf einen Cadillac umgestiegen sind, von einem Fahrzeug mit einem überschaubaren Spritverbrauch zu einer echten Benzinschleuder. Die Auswirkungen merken wir zum Beispiel an den Lebensversicherungen. Einstmals haben die Geldanleger dort sieben Prozent und mehr an Rendite erzielt, heute können sie froh sein, wenn es drei Prozent werden.
60 PS verleihen einem Auto mit 750 kg Leergewicht (z.B. ein Opel Corsa, Ford Fiesta oder VW Polo aus den frühen 80ern) Spritzigkeit und akzeptable Fahrleistungen. Dafür gibt es keine Servolenkung, keine elektrischen Fensterheber, kein ABS oder ESP, keine Airbags... Mit diesen nützlichen Ausstattungen steigt das Gewicht der aktuellen Modelle auf 1100 kg, mit den 60 PS fährt sich der Wagen jetzt wie ein Lkw. Zum Glück hat sich die Motortechnik verbessert, die Autos verbrauchen trotzdem weniger Sprit.
Bei den Volkswirtschaften sieht es anders aus. Hier wurde ebenfalls aufgesattelt. Wir haben heute mehr Bürokratie als zur D-Mark-Zeit, mehr Zuwanderung, höhere Abgaben an Europa, Belastungen durch Auslandseinsätze der Bundeswehr. Wir müssen mehr Gas geben als früher, deshalb sind die Leitzinsen niedriger. Und wir haben den "amerikanischen Antrieb", wodurch das Geld nicht in der Wirtschaft arbeitet, sondern per Finanzspekulation direkt durch den Auspuff gejagt wird.
Die Leitzinsen sind historisch niedrig, das Gaspedal ist voll durchgetreten. Irgendwo ist jetzt die Bodenplatte im Weg. Sie können nicht weiter durchtreten, Bleifuß und Backstein helfen auch nicht weiter. Zugegeben, die EZB ist bei einem Prozent, ein bißchen Raum ist da noch, bis es Geld zum Nulltarif gibt. Oder gleich zu Negativzinsen: Die EZB bezahlt, wenn Sie bereit sind, sich von ihr Geld aufdrängen zu lassen. Das käme Italien, Griechenland und den anderen Euro-Bankrotteuren sicher gelegen.
So, wie derzeit aufs Gas getreten wird, rauscht ein 85er Corsa mit Tempo 200 dahin. Das Fahrwerk ist allerdings nur für Tempo 150 ausgelegt, die Autofahrt ist also alles andere als spaßig. Und dann haben wir noch einen Anhänger hinten dran... Wenn jetzt jemand auf die Bremse tritt, zerlegt sich dieses Gespann in seine Einzelteile.
Wir kennen die Situation aus den 1920er Jahren. Da wurde ebenfalls Gas gegeben ohne Ende, bis 1929 auf die Bremse getreten wurde. Das Ergebnis nannte sich Weltwirtschaftskrise. Diese Weltwirtschaftskrise wurde durch die moderne Technik ermöglicht. Dank der Telegraphie gelangten Nachrichten binnen Stunden in jeden Winkel der Welt, dank schneller Dampfschiffe und den Eisenbahnen Waren binnen Wochen an jeden beliebigen Ort. Heute passiert alles noch schneller: Nachrichten reisen binnen Sekunden dank des Internets, Waren binnen Stunden dank der Flugzeuge. Wenn es heute kracht, wird der Effekt weitaus umfassender sein.
Der Merkel-Brüderle-Aufschwung wurde durch ein Anhäufen von Staatsschulden erzielt, wobei dieses Geld jedoch nicht bei der arbeitenden Bevölkerung angekommen ist. Die Löhne sind gesunken, denn die meisten der neuen Arbeitsverhältnisse sind schlecht bezahlt. Das Geld ist abgeflossen, liegt bei irgendwelchen Banken, wurde an Verschwenderstaaten verliehen, ist auf privaten Konten versickert.
Die Wirtschaft ist in einem kritischen Zustand, so voller Geld gepumpt, daß sie jederzeit platzen kann. Konstruieren wir ein richtiges Bild: Wir sitzen in einem 85er Corsa, der 150 km/h als Höchstgeschwindigkeit schafft. Wir sind hoffnungslos überladen, mit 35 Kanistern, in denen jeweils 20 Liter Benzin schwappen. Hinter uns geht eine Mure bergab, die uns mit ihren tonnenschweren Steinbrocken plattwalzen würde. Wir treten die Bodenplatte durch und rasen dank des Gefälles mit über 170 km/h dahin. Und die Tankanzeige steht auf Reserve, denn bei all dem Benzin an Bord ist ausgerechnet der Tank leer.
Das alte Auto symbolisiert die Anfälligkeit der Wirtschaft. Es gibt keine Sicherungs- und Komfort-Systeme, einen "Elchtest" würde das Auto nicht überstehen. Wir fahren mit allerhöchster Geschwindigkeit, weil unsere Leitzinsen am Anschlag sind. Sie sind sogar niedriger, als es der Wirtschaft gut täte. Der Tank ist dank der Staatsschulden so leer, wir wissen nicht, wie lange der Motor noch laufen wird. Das Benzin an Bord ist das viele Geld, das in spekulativen Fonds steckt, und jederzeit einen Flächenbrand auslösen kann. Die Steinbrocken hinter uns sind die Auswirkungen der Globalisierung. Ausgebeutete Arbeiter in China, abgeholzte Regenwälder, brennende Steinkohleflöze, Jugendarbeitslosigkeit, die zerfallende Mittelschicht - die Probleme treten weltweit auf. Es geht bergab, wir haben keine Chance, in irgendeine andere Richtung zu steuern.
Wir müssen mit Vollgas in den Abgrund steuern, und können nur hoffen, daß ein rettender Engel eingreift. In Hollywood ginge das, da würden wir mit dem letzten Tropfen Benzin über die Klippe jagen und von einem Hubschrauber aufgefangen. Das brauchen wir in diesem Fall nicht zu hoffen. Das Bodenblech bricht durch, der Wagen wird sich überschlagen.
Für die Wirtschaft gibt es keine Rettung, für den Einzelnen schon. Bereiten Sie sich vor, sichern Sie sich ab. Mehr können Sie nicht tun.